Dienstag, 27. November 2012

Sind G8-Abiturienten besser?

Von Stefan Sasse

Das achtjährige Gymnasium gehört zu den umstrittensten Bildungsreformen der letzten Jahre, wenn man einmal vom Bologna-Prozess absieht. Mit der Zielsetzung, das Alter des Berufseintritts zu senken, wurde das Gymnasium von neun Jahren auf acht heruntergeschraubt, ohne substantielle Streichungen am Stoff, was zu ausgedehnten Wochenstunden bei den Schülern führt. Nicht nur diese Stundenbelastung wurde oft gegen die Reform zu Felde geführt, sondern auch der Verdacht, dass in acht statt neun Jahren zwangsläufig doch auch Kompetenzen auf der Strecke bleiben müssten, die Schüler also weniger können. Mit einer neuen Studie hofft der Hamburger Schulsenator nun, diesen Verdacht endgültig widerlegen zu können, denn das Ergebnis lautet: die G8-Schüler sind sogar besser als die G9-Schüler. Erreicht wurde dieses Ergebnis trotz einer Netto-Erhöhung der Abiturientenzahlen. Nun mag es durchaus sein, dass diese Ergebnisse existieren. Bei einer Studie des für die Politik zuständigen und sie aktiv vertretenden Senators ist man jedoch naturgemäß vorsichtiger. Und tatsächlich fallen bereits in der Berichterstattung der Zeit einige Punkte auf, die zumindest fragwürdig sind und die Frage nach Kausalität und Korrelation aufdrängen. 

Zuerst einmal wurde in der Studie nur überprüft, wie die Leistungen der Schüler in den "berufsrelevanten" Fächern sind - Englisch, Mathematik und "Naturwissenschaften" (was auch immer darunter verstanden wird). Fächer wie Deutsch, immerhin auch ordentliches Hauptfach und Kernfach im Abitur, fallen dabei heraus. Gerade in Deutsch und den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern macht sich aber die mit dem Alter einhergehende Reife am deutlichsten bemerkbar. Ein Beispiel: Rechenwege und Beweise können einfacher erlernt werden als die Fähigkeit, hinter die komplexen Abläufe internationaler Politik zu blicken. Die in den Geisteswissenschaften geforderten Reflexionsfähigkeiten entwickeln sich zur Blüte erst im jungen Erwachsenenalter. Viele G8-Schüler erreichen das aber vor dem Abitur gar nicht; das eine fehlende Jahr macht sich hier deutlich bemerkbar. Die Studie testet hier also Fächer, in denen ein Abfall ohnehin weniger stark zu erwarten war. Gleichzeitig haben besonders die Naturwissenschaften seit der PISA-Studie 2000 eine deutliche Stärkung und Förderung erfahren. In Baden-Württemberg wurden komplett neue Unterrichtsfächer dafür eingeführt, die einen Fächerverbund darstellen und größeren Fokus legen. Der erste Jahrgang mit dem achtjährigen Gymnasium begann 2004 - also genau, als diese Reformen zu greifen begannen. Man sollte erwarten, dass so viele Maßnahmen auch einen Effekt haben. Nur, den könnten sie theoretisch auch im Rahmen des G9 erreicht haben. Die Studie beweist hier also gar nichts. 

Ein gewichtiges Argument der Studie ist es auch, dass erstmals Leistungen von Abiturienten im G8 und G9 direkt verglichen wurden. Der Neuigkeitswert verliert stark an Attraktivität wenn man sich vor Augen hält, dass wir das erste Jahr mit Abiturienten aus dem G8 erst 2011 hatten - es gibt bisher überhaupt nur einen Jahrgang, der das Abitur vollendet hat. Dazu kommt, dass der Vergleich von "Leistungen" im Bildungsbereich ein Dauerproblem ist. Das war den Autoren auch klar, die immerhin von einem platten Notenvergleich absehen. Stattdessen bewerten sie die erworbenen Kompetenzen. Zur Erklärung: Die Didaktik geht gerade davon aus, dass statt dem reinen Vermitteln von Stoff (z.B. "Was hat Napoleon in Deutschland getan?") die Vermittlung von Kompetenzen im Vordergrund steht (z.B. Bedeutung des Code Civil eigenständig erarbeiten). Soweit, so vernünftig, dieses diaktische Modell wird eigentlich - aus gutem Grund - nicht in Frage gestellt. Nur, eingeführt wurde die Konzentration auf Kompetenzen 2004, mit dem G8. Das G9 wurde noch nach "Lehrplänen" unterrichtet, die auf Vermittlung von Wissen setzten. Die neuen "Bildungspläne" dagegen sehen die Erlangung von Kompetenzen als zentral an. Kurz gesagt: da werden Äpfel mit Birnen verglichen. 

Für den Bildungssenator ist die Studie natürlich toll, denn sie erlaubt es, mit Zahlen und Fakten das G8 zu verteidigen. Ob es wirklich besser oder schlechter als das G9 ist, lässt sich aber schlicht nicht sagen. Es ist anders. Manches ist besser, anderes wird sicherlich nicht so gut sein wie früher (wie erwähnt, die geistige Reife...). Die gesellschaftliche Entscheidung war die für einen früheren Eintritt ins Berufsleben, ein Ziel, das G8 klar erreicht. Wer sich humanistischen Bildungsidealen verpflichtet, kann da nur Grausen empfinden und das G9 als Heiligen Gral empfinden. Es ist letztlich eine Frage der Prioritäten; ein objektives "besser" oder "schlechter" kann man nicht finden. Vor diesem Hintergrund ist auch diese Studie (und andere der gleichen Art) zu bewerten.

6 Kommentare:

  1. Alle Rankings und Statistiken haben das gleiche Problem, Qualität in Quantitäten (vergleichbare Zahlen) umzusetzen. Man muss nur die "messbaren" Werte geschickt aussuchen, dann kommt man auch zum gewünschten Ergebnis.
    Wenn man in diesem Beispiel "Wissen" statt "Kompetenzen" gemessen hätte, wäre das Ergebnis anders ausgefallen.

    Passend dazu: http://www.tagesspiegel.de/zeitung/einige-rudern-zurueck/6339028.html

    ...Gespannt blickten viele Beobachter im vergangenen Jahr nach Bayern und Niedersachsen: Die bevölkerungsstarken Bundesländer entließen 2011 ihre doppelten Jahrgänge. Während in Niedersachsen Schüler des achtjährigen (G8) und neunjährigen Gymnasiums (G9) dieselben Prüfungen schrieben – wie es in Berlin und Brandenburg bevorsteht –, ging Bayern einen anderen Weg: Die Schüler wurden nicht zusammengewürfelt.

    Die G9-Schüler legten dort schon vor Ostern alle Prüfungen ab; bereits im Vorfeld bekamen sie ein Zeugnis, mit dem sie sich noch für das Sommersemester an den Unis bewerben konnten. Die G8-Schüler schrieben ihre Klausuren danach und bekamen die Zeugnisse im Juli.

    Durch diese Struktur hatte Bayern den Vergleich zwischen beiden Gruppen. Mit überraschenden Ergebnissen: Zum einen sah sich das CSU-geführte Kultusministerium nachträglich (nachdem die Klausuren geschrieben und korrigiert waren) dazu veranlasst, den Bewertungsschlüssel für die G8-Klausuren so weit zu senken, dass einige Prüflinge doch noch die Hürde „bestanden“ nahmen. Zum anderen ergab dann aber die finale Auswertung, dass das G8-Abitur insgesamt sogar besser ausfiel als das der G9-Schüler...

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  2. Groundhog day?
    Musste im August noch ein Statiker aus Danzig in die Bütt, um die rückwärts gewandte Diskussion um die Gymnasien mit rissigen Argumenten zu befeuern, versucht es der Herr des „Heiligen Grals“ jetzt selbst. Zugegeben etwas subtiler, doch jedes der angebliche Argumente gegen G 8 könnte man auch umkehren. Dem Autoren ist auch entgangen, dass es in 3 Bundesländern (Berlin, Brandenburg, MV) ein G 6 im Regelfall gibt.
    In Sachsen wurde G 9 nie eingeführt, und Sachsen hat nun mal neben Bayern unstrittig die besten PISA-Ergebnisse aufzuweisen.
    Wie wäre es, mal über diese Schulform zu diskutieren: „ ... schließt sich die schulartunabhängige Orientierungsstufe 5 und 6 an. Diese Form der Orientierung auf spätere Bildungsgänge findet im Rahmen des längeren gemeinsamen Lernens an Regional- und Gesamtschulen sowie an Sport- und Musikgymnasien statt. Zum Ende der Orientierungsstufe wird auf der Grundlage einer Empfehlung über die weitere Schullaufbahn in einem zweigliedrigen Schulsystem entschieden.“?

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  3. Sind G8-Abiturienten besser?

    Ja.

    Der Beweis, dass längeres Lernen zu mehr Wissen führt, steht noch aus und wird wohl nie erbracht werden können. Tatsächlich entspricht der Artikel doch eher der menschlichen Natur, sich es in Komfortzonen bequem zu machen. Wir vergeuden einen Teil unserer Kindheit, weil wir von Staat, Gesellschaft und Elternhaus am Lernen gehindert werden. So sind Kleinkinder extrem neugierig, aber, Ordnung muss sein, der Schulbesuch ist erst ab dem 6. Lebensjahr vorgesehen, wovon ein nennenswerter Teil auf Veranlassung der Eltern zurückgestellt wird, weil sie ihren Kindern bessere Chancen mit wachsender Reife geben. Doch das ist ein Trugschluss, Unterforderung führt nicht zur Reife.

    Innerhalb der OECD ist die Vormittagsschule ein Auslaufmodell und es sind nicht die Bummelschüler und -studenten, die später die Karriere machen und die großen Einkommen absahnen - noch, die sich überproportional häufig selbständig machen. Diese gehen auch später lieber in den Staatsdienst, wo das Arbeitstempo etwas heruntergeschraubt ist.

    Wie stellt doch die OECD in ihrem jährlichen Bildungsbericht "Education at Glance 2012" fest?
    Im Durchschnitt der OECD-Länder, für die Daten aus beiden Jahren vorliegen, ist die Beteiligung an frühkindlicher Bildung zwischen 2005 und 2010 unter den 3-Jährigen von 64% auf 69% und unter den 4-Jährigen von 77% auf 81% gestiegen. Mehr als drei Viertel der 4-Jährigen nehmen im OECD-Durchschnitt inzwischen an frühkindlicher Bildung teil, und in der Mehrzahl der OECD-Länder beginnen die meisten Kinder ihre Bildungslaufbahn heute deutlich vor Vollendung des fünften Lebensjahrs. Da die Teilnahme an frühkindlicher Bildung mit besseren Leistungen in der weiteren Schulzeit assoziiert ist, sind dies vielversprechende Entwicklungen mit Blick auf die Zukunft, wo es immer wichtiger werden wird, das Kompetenzniveau junger Menschen zu erhöhen.

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    1. Ich hab dir mit den Geisteswissenschaften ein Gegenbeispiel wo es nicht so gut ist.

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    2. Das ist eine Beweisführung ohne empirische Daten, während Du eine empirische Studie kritisierst. Meine eigenen rhethorischen Fähigkeiten habe ich im zarten Alter von 23 herausgebildet, beim Schreiben meiner Diplomarbeit. Vielleicht sollten wir soweit die Schulzeit ausweiten?

      Andererseits bin ich noch zu einer Zeit in die Schule gegangen, wo Fehlstunden an der Tagesordnung waren. Dennoch sind in meinem Abiturjahrgang exakt 1 Person durchs Abitur gefallen. Gut, das hätte man auch noch verhindern können, aber dafür waren wir um halb zwei zu Hause. Übrigens: überfordert haben wir uns damals auch gefühlt.

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  4. M. E. ist die ganze G8 Kiste neben der Rente ab 67 nichts weiter als ein Instrument um Druck auf den Arbeitsmarkt auszuüben und so die Löhne und Gehälter niedrig zu halten. je früher die jungen Leute auf den Arbeitsmarkt drängen und je länger man arbeiten darf, umso mehr Menschen kokurrieren um immer weniger Jobs.

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