Mittwoch, 2. Januar 2013

Klippenspaziergänge

Von Stefan Sasse

Die Debatte um die Ereignisse der amerikanischen Fiskalpolitik rund um den Jahreswechsel, die dem englischen Begriff der fiscal cliff folgend gerne als Fiskalklippe bezeichnet werden, waren wieder einmal ein Lehrstück, wie Halbwissen und Vorurteile zusammenwirken und einen rasant rotierenden, letztlich aber nicht besonders informativen Medienzirkus bilden können. Während die reinen Fakten des Phänomens - was ist die Fiskalklippe eigentlich? - im Normalfall zuverlässig transportiert wurden, war die Einordnung des Geschehens im Allgemeinen eine kleine Katastrophe. Häufig genug wurden Aussagen der streitenden Parteien einfach für bare Münze genommen und wiedergegeben und keinerlei Unterschied zwischen den Folgen der tatsächlichen Fiskalklippe und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens gemacht. Was blieb war der Eindruck, dass die amerikanische Politik völlig wahnsinnig geworden sei. Das ist natürlich ein schnell und gern geglaubtes Statement, aber das macht es nicht richtiger. Tatsächlich ist der Spaziergang entlang der Fiskalklippe - und um nichts anderes handelte es sich bei dem ach so dramatischen Showdown der letzten Wochen mit all seinen Livetickern und Countdowns - ein rein politisches Spiel gewesen, das mit ökonomischen Konsequenzen praktisch nichts zu tun hat und dem die Vergleichbarkeit mit der hostage situation um die Erhöhung des debt ceiling fast völlig abgeht.

Zuerst noch einmal in Kürze die Fakten. 2011 nutzten die Republicans im House of Representatives, die seit den Midterm Elections 2010 einen großen Influx von Tea-Party-Abgeordneten erhalten hatten, den Routinevorgang der Anhebung des Schuldenlimits, um die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen. Da die USA ihre Schulden nicht mehr bedienen können, wenn dieses debt ceiling nicht angehoben wird und die Konsequenzen unabsehbar waren, sprach man allgemein von einer Geiselnahme der US-Wirtschaft, die eingangs angesprochene hostage situation. Ein Kompromiss konnte nicht wirklich erzielt werden, weswegen man zu einem normalen Mittel griff: man verschob die Lösung. Es wurde beschlossen, dass wenn nicht am 31.12.2012 eine Lösung gefunden war, automatische Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen greifen würden. Da man sich nicht hatte einigen können, wo das stattfinden sollte (die Democrats wollten keine Kürzungen, die Republicans keine Steuererhöhungen) gestaltete man den Automatismus möglichst schreckenerregend: die Kürzungen würden quer durch alle Bereiche mit dem Rasenmäher greifen und die Steuern mehr oder minder umfassend steigen, unabhängig vom tatsächlichen Einkommen. Dieser Kompromiss war eine Drohgebärde, denn die Durchführung wäre für beide Seiten furchtbar. Die Republicans verlören riesige Teile ihres geliebten Militärbudgets und müssten Steuererhöhungen hinnehmen, während die Ausgabenkürzungen eine aktive Konjunkturpolitik für die Democrats unmöglich machen würden (die Sozialprogramme waren von den Kürzungen ausgenommen). Wie gesagt, es war eine Drohgebärde. Niemand ging 2011 davon aus, dass jemand ernsthaft das fiscal cliff hinunterstürzen wolle und dass der Preis für das Nichtstun so hoch sei, dass die Politik vor dem 31.12.2012 zum Handeln gezwungen wäre. 

Doch wie so oft kam die Realität der Theorie in die Quere. Über die Monate verschob sich das Gewicht der Debatte mehr und mehr. Die Republicans, besonders die Tea-Party-Abgeordneten im House of Representatives, verloren deutlich an Einfluss und wurden von den Medien fast einhellig als Verantwortliche für die debt ceiling hostage situation von 2011 gezeichnet. Obamas Wahlkampfteam gab sich alle Mühe, diesen Eindruck während des Wahlkampfs 2011/12 zu bestätigen, und Romneys Ernennung von Paul Ryan zum Vizepräsidentschaftskandidaten spielte dem in die Hände, denn Ryan war einer der Hauptakteure der debt ceiling crisis und Hauptautor der Fiskalklippe. Ab Sommer 2012 war die öffentliche Meinung deutlich auf Seiten Obamas, der sich ostentativ bemüht zeigte, die Fiskalklippe zu verhindern. Die Apokalypse-Szenarien nahmen immer mehr an Drastik zu: der Sturz über die Fiskalklippe werde die USA in eine Rezession stürzen, hieß es, und dazu noch gleich die ganze Welt. Ähnliche Szenarien waren bereits in der debt ceiling crisis als Waffe genutzt worden. Dieses Narrativ machte die gesamte Krise für die Medien sehr attraktiv. Ständig konnte man über irgendwelche Showdowns berichten. Kommissionen bildeten sich und gingen ergebnislos auseinander. Die Schuld daran wurde überwältigend den Republicans zugeschrieben. 

Es gab nur wenige, die klar sahen. Ein solcher Autor war Jonathan Chait vom New Yorker Magazine. Chait schrieb bereits früh 2012, dass der Sprung über die Fiskalklippe für Obama keinesfalls eine Katastrophe war. Vielmehr wäre es positiv für ihn. Er ging davon aus, dass es zu keiner Einigung kommen würde und alle Beteiligten die Fiskalklippe gerne hinunterspringen würden. Vor dem Hintergrund der "normalen" Berichterstattung über die Fiskalklippe, die auch die aktuelle öffentliche Meinung dominiert, muss das irre erschienen sein. Chait hatte aber offensichtlich Recht, und er legte seine Argumentation methodisch dar. Für Obama waren die automatischen Kürzungen in Wahrheit ein Geschenk. Die verfahrene Situation im US-Kongress war durch die Radikalisierung der Republicans, die alle den Schwur des brillanten Lobbyisten Grover Norquist unterschrieben hatten, niemals und unter keinen Umständen die Steuern zu erhöhen zustandegekommen. Norquists "Americans for Tax Reform", eine mit dem Bund der Steuerzahler vergleichbare Lobby-Organisation, hatte, finanziert u.a. von den Koch-Brüdern, die bereits hinter der Tea-Party stehen, ein Klima geschaffen, indem die Zustimmung zu jeglicher Steuererhöhung politischem Selbstmord gleichkam. Egal wie weit Obama den Republicans entgegenkam - und er kam ihnen weit entgegen, 2011 während der debt ceiling crisis sogar bis zum Punkt der Aufgabe seiner eigenen Positionen - sie lehnten ab. 

Für Obama bedeutete das dreierlei. Die hochsymbolische Abschaffung der Steuerkürzungen für Wohlhabende, die George W. Bush eingeführt hatte und an der Obama bereits einmal gescheitert war, geschah durch die Fiskalklippe automatisch. Gleichzeitig würden automatische Kürzungen beim Militär eintreten, die Obama eigenständig nie gegen die Republicans würde durchbringen können. Ab dem 1. Januar 2013 wäre seine Verhandlungsposition also deutlich gestärkt - er hätte bereits, was er wollte. Die Ausgabenkürzungen, auf der anderen Seite, waren für die Republicans ebenfalls äußerst unangenehm. Sie konnten das Militär nicht so kastrieren, und die Steuererhöhungen betrafen auch und gerade die Armen und die Mittelschicht. Da sie bereits als die Schuldigen dargestellt worden waren, konnten sie die Last nicht auf Obama abzuwälzen. Sie waren also zu Verhandlungen gezwungen. Gleichzeitig würden sie bei einem Kompromiss mit Obama die Steuern nicht mehr erhöhen, sondern senken - gestiegen waren sie ja bereits, und zwar automatisch, so dass sie "nichts dafür können". Auch für die Republicans war der "Sturz" über die Fiskalklippe äußerst attraktiv.

Daraus folgt wiederum dreierlei. Erstens würde keine Einigung bis zum 31.12.2012 erfolgen, ganz gleich wie bemüht sich beide Seiten auch zeigten (Obama brach sogar öffentlichkeitswirksam seinen Urlaub auf Hawaii ab, und die Abgeordneten verbrachten Sylvester im Kongress). Am 01.01.2013 wären dagegen, zweitens, ein Kompromiss nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert, denn beide Seiten wollten die Effekte der Fiskalklippe ja gar nicht - sie wollten nur den jeweiligen politischen Handlungsspielraum, der mit ihnen einherging.

Der Kompromiss spiegelt genau das wieder, und er wurde bezeichnenderweise nur Stunden nach Mitternacht gefunden. Das ist kein Zufall. Es war beabsichtigt, von beiden Seiten. Schauen wir ihn uns an. Die Republicans konnten einen Teilsieg bei den Bush Tax Cuts verbuchen: statt Einkommen über 250.000 Dollar werden künftig nur solche über 450.000 Dollar höher versteuert; ein rein symbolisches Placebo für die liberals, aber nichts desto trotz notwendig. Substantieller ist der Anstieg der Kapitalertragssteuer von 15% auf 20% sowie die Erhöhung der Erbschaftssteuer von 35% auf 40%. Sämtliche geplanten Ausgabenkürzungen - also der Rasenmäher für die US-Institutionen und das Militär - werden um zwei Monate verschoben. Die beschlossenen Maßnahmen spiegeln, mit Ausnahme der symbolischen Verschiebung der Steuererhöhung von 250.000 auf 400.00 Dollar, die gesteigerte Machtsituation der Democrats seit dem Wahlsieg vom November wieder. Die Republicans konnten nur relativ zu den Steuererhöhungen der Fiskalklippe Erfolge verbuchen, aber nicht aus eigener Kraft. Und in der bisherigen Debatte praktisch völlig unter geht die Frage nach den Ausgabenkürzungen.

Die Verschiebung um zwei Monate mag völlig arbiträr wirken. In den anderthalb Jahren seit der debt ceiling crisis 2011 bis Sylvester 2012 gelang kein Kompromiss. Warum in zwei Monaten? Die Republicans werden nicht plötzlich beim Militär streichen wollen und die Democrats nicht plötzlich bei Medicare. Aber in zwei Monaten steht die nächste Abstimmung über die Erhöhung des debt ceiling an. Die größten Verlierer des aktuellen Fiskalklippenkompromisses sind die radikalen Tea-Party-Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Sie haben fast nichts gewonnen, und sie torpedierten öffentlichkeitswirksam in den letzten Wochen jeden Kompromiss (sicherlich zur heimlichen Freude Obamas) und demontierten den Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner. Ihre debt ceiling hostage situation 2011 war ebenfalls ein Desaster. Die große Frage ist nun, ob ihre Macht gebrochen ist und die moderaten Republicans die Zügel wieder in die Hand nehmen können oder ob sie erneut eine Krise um die Erhöhung des debt ceiling heraufbeschwören werden, die sie nach Lage der Dinge verlieren werden (die aber ihren Stand bei ihrer Basis sichert). Die Verschiebung um zwei Monate wird die Debatte um das debt ceiling exakt mit den Ausgabenkürzungen der Fiskalklippe zusammenfallen lassen. Die beiden Diskussionen werden nicht zu trennen sein, und die Fiskalklippe wird im Gedächtnis der amerikanischen Öffentlichkeit als erfolgreich überstanden gelten. Schlechte Chancen für die Tea Party also.

Und das ist, zusammengefasst, die wahre Natur der Fiskalklippe gewesen. Sie war nie real; sie war eine reine Drohgebärde. Es ging um den Mechanismus als solchen. Er erlaubte es allen Beteiligten, das Gesicht zu wahren und einen politischen Wandel einzuleiten, der wegen der eingefahrenen Strukturen und des überaus erfolgreichen Lobbyings Grover Norquists (als pars pro toto) auf normalem Wege nicht mehr zu erreichen war. Chait hatte von Anfang an Recht. Es ging nie um einen Kompromiss zum Verhindern der Fiskalklippe. Die Fiskalklippe ermöglichte den Kompromiss. Das ist Politik, und es hat mit Wirtschaft nichts zu tun. Da wir aber keine Tradition echter politischer Berichterstattung haben und diese Feinheiten kein so einfaches Narrativ darstellen wie die offizielle Version der Fiskalklippe erfuhren wir nichts davon.

8 Kommentare:

  1. Du hast vergessen, dass der Payroll Tax Holiday ausläuft.. Und das schlägt dann doch noch ordentlich zu Buche.. 1000 $ bei 50.000 $ Jahreseinkommen ist definitiv deutlich weniger Netto vom Brutto ;)

    http://www.krmg.com/news/news/local/consumer-alert-payroll-tax-holiday-over-find-out-h/nTj6Y/

    AntwortenLöschen
  2. Ich bins nochmal. Ich habe mir eben gedacht, dass ich auch zuerst deinen Text noch mehr hätte würdigen sollen, als nur eine kurze Kritik anzubringen. Gut geschrieben :)

    Aufgrund des nicht verlängerten Payroll Tax Holidays merken die Leute das vermutlich schon noch irgendwann.
    Wobei ich dann doch noch eine Frage haben: Wer hat denn eine Tradition echter politischer Berichterstattung? ;)
    Was mich insgesamt aber noch mehr verwundert, und da bin ich ganz bei Paul Krugman, ist die Berichterstattung über Fiskalklippe (böse) und Haushaltsdefzizit (böse). Das passt dann nämlich nicht mehr zusammen, das Problem bei der bösen Fiskalklippe (falsche Metapher übrigens) ist ja gerade, dass sie das Defizit (zumindest auf dem Papier) reduziert hätte. Viele Leute dachten ja, das Problem wäre, das dass Defizit zu groß wäre ;)
    http://krugman.blogs.nytimes.com/2012/12/06/the-fiscal-ignoramus-factor/

    AntwortenLöschen
  3. Ist gemeint "Democrats" statt "Republicans" gemeint in " Die Ausgabenkürzungen, auf der anderen Seite, waren für die Republicans ebenfalls äußerst unangenehm."?

    AntwortenLöschen
  4. Ein überaus lesenswerter Artikel, der die Ereignisse in der US-Politik klar analysiert und dabei wieder einmal den traurigen Zustand des sogenannten Qualitätsjournalismus aufzeigt. Dieser Artikel ist Journalismus, wie man ihn sich wünscht! Vielen Dank dafür!

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.