Freitag, 17. Juli 2015

Der Preis des Hegemon

Wenn die Schweiz sich im Spiegel ihrer Außenpolitik betrachtet, dürfte sie ziemlich glücklich sein. Sie bewahrt sich ihre Neutralität, wird nicht in irgendwelche teuren Experimente hineingezogen und bewahrt sich auf dem für sie so wichtigen Feld der Finanzpolitik ein überproportionales Gewicht, sofern sie nicht gerade allzu flagrant kriminell ist. Sie kann das tun, weil sie klein ist und in einem ziemlich abgelegenen Teil Europas liegt (es sei denn, man ist deutscher Tourist und will nach Italien). Alte Hegemonialmächte wie Frankreich oder England haben für solche falsche Bescheidenheit naturgemäß nur Verachtung übrig. Noch heute erinnert man sich in England gerne der Zeiten, als ein Gentleman auf einem beliebigen Gewässer nur den Finger ins Wasser stecken und ihn ablecken musste, um am Salzgehalt festzustellen ob er sich in englischem Einflussgebiet befand. Die Zeiten derart unverblümter Machtpolitik sind natürlich vorbei, aber die Griechenlandkrise offenbart gerade für alle Welt, dass damit nicht das Verschwinden von Hegemonialmächten einherging.

Was genau ist denn ein Hegemon? Eine Hegemonialmacht ist eine Nation, die durch ihre besondere Stärke - auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Gebiet - ihre Nachbarn entweder dominiert oder doch wenigstens eine starke Veto-Funktion besitzt. Dabei sind die Kosten dieser Hegemonialstellung häufig genug höher als dder direkte Nutzen. Die USA etwa erfüllen alle drei Kriterien. Zahllose Allianzen und institutionelle Vernetzungen (NATO, UNO, IWF, ...), das weltstärkste Militär und die größte Volkswirtschaft erlauben ihr derzeit als einzige Nation eine weltweite Ausübung von Macht. Andere Nationen sind regionale Hegemonen: China im ostasiatischen Raum, Russland im osteuropäischen, der Iran vielleicht bald im Mittleren Osten und, in Europa, Deutschland.

Die Besonderheit der Deutschen ist, dass sie sowohl den tatsächlichen Status ihres Landes als auch die pure Vorstellung davon strikt ablehnen. Eine der häufigsten Reaktionen in Gesprächen über die Griechenlandkrise ist das Unverständnis darüber, warum die Griechen gerade auf die Deutschen so sauer sind. Dieses Unverständnis ist weit verbreitetet; so war eines der beliebtesten Argumente der letzten Wochen, dass neben Deutschland ja auch die Slowakei und Finnland gegen einen Schuldenschnitt waren. Das ist natürlich wahr. Nur ist es leider auch irrelevant, denn weder die Slowakei noch Finnland haben die Möglichkeit, gegen den Willen anderer Mitgliedsländer ihre Position durchzusetzen. Deutschland dagegen hat das sehr wohl.

Es dürfte dabei auch unter linken wie rechten Gelehrten unstrittig sein, dass Deutschland in den letzten 20 Jahren die Europäische Union stark nach seinem Vorbild geformt hat. Die Regeln von Maastricht, die Einrichtung der EZB und das gesamte Vertragswerk des Euro sind deutsch. Alle anderen Länder der EU wurden entweder auf Linie gezwungen (etwa Frankreich) oder hielten sich von Anfang an aus dem Europrojekt heraus (etwa Großbritannien). Deutschland erreichte diese regionale Hegemonie, dies unzweifelhaft ausübt, nicht mit militärischen Mitteln, weswegen sie weniger sichtbar als die amerikanische oder selbst die chinesische ist. Es erreichte sie über politische und, vor allem, wirtschaftliche Mittel. Als drittgrößte Volkswirtschaft der Erde, weit vor anderen EU-Staaten, hat Deutschland ein besonderes Gewicht in der EU, das sich aus reiner Fläche oder Bevölkerungszahl nicht ablesen lässt.

Die Verleugnung der deutschen Hegemonie durch die Deutschen selbst ist für die Regierung dabei Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil die Kosten des Hegemon in der Bevölkerung nicht akzeptiert werden, Segen, weil die Bevölkerung selbst keine großen Erwartungen an die deutsche Außenpolitik stellt und dieser somit größeren Spielraum lässt als etwa den USA. Bei uns ist Außenpolitik nur selten ein Wahlkampfthema. Oder hat in letzter Zeit jemand Deutschlands hervorgehobene Rolle bei den Iranverhandlungen thematisiert?

Insgesamt aber bringt die Verleugnung des Hegemon mehr Schaden als Nutzen. Der Umgang mit Griechenland ist dafür das perfekte Beispiel. Schäuble als de-facto deutscher Verhandlungsführer nutzte das gesamte Gewicht, das der Hegemonialstatus ihm brachte, vermied aber alle Verantwortlichkeiten, die damit einhergingen. Dieses Paradox fiel den Deutschen selbst nicht auf, wie alle Meinungsumfragen belegen. Dem Rest der Welt hingegen schon. Das Argument, dass Deutschland (und die anderen Gläubigerländer) unmöglich die Kosten für griechische Versäumnisse aufgebürdet werden könnten, ist auf den ersten und auch zweiten Blick einleuchtend. Warum sollte man die Schulden der Griechen übernehmen, ohne dass diese die Wurzeln ihres Problems anpacken?

Dabei wird aber übersehen, dass die Kosten durch das semi-unilaterale Handeln der Bundesrepublik deutlich höher, wenngleich vorerst noch unsichtbar sind. Deutschland hatte die Macht, um seine Vorstellungen in einer wesentlich heterogeneren Europäischen Union durchzusetzen und alle anderen Staaten auf Linie zu bringen, das wurde hinreichend bewiesen. Es wurde sogar mit einer Deutlichkeit in die Welt hinausposaunt, die sicher den Gefallen Wilhelm II. gefunden hätte. Ich möchte solcherlei Vergleiche aber gar nicht überstrapazieren, denn wir müssen nicht bis ins Kaiserreich gehen, um einen ähnlichen Fehler bei einem Hegemon zu finden. Tatsächlich hat Schäuble nämlich viel mehr mit George W. Bush gemeinsam als mit dem ehemaligen Kaiser.

Der Machtwechsel 2001 hin zu George W. Bush und den Neocons brachte eine neue Doktrin in die US-Außenpolitik: weg von internationaler Kooperation und Diplomatie hin zur Projektion roher Macht, wenn möglich mit Alliierten, zur Not auch alleine. Hatten die USA 2001 dabei noch die ganze Welt hinter sich, als es sich gegen die Attentäter von 9/11 zur Wehr setzte, konnte dies im Falle des Irak nicht mehr behauptet werden. Trotz vieler Kritik und Neutralitätsbekundungen seitens enger Verbündeter griff Bush den Irak völkerrechtswidrig an - eine Handlung, die das Image der USA nachhaltiger beschädigte als irgendeine Handlung seit dem Vietnamkrieg. Ob die Ziele dabei erreicht werden konnten oder nicht wurde zweitrangig. Selbst wenn der Irak befriedet worden wäre, so hatte die pure Durchsetzung dessen, was durchsetzbar gewesen war - gegen alle Widerstände - den USA gewaltige Langzeitkosten verursacht, die heute noch ihre diplomatischen Beziehungen vergiften und ihre Möglichkeiten, auf andere Krisen zu reagieren - Stichwort Syrien - nachhaltig verschlechtern.

Ähnlich dürfte es Deutschland im Falle der Griechenlandkrise ebenfalls ergehen. Es konnte seine Interessen zu 100% durchsetzen (vorausgesetzt, Merkel wollte den Grexit tatsächlich nicht), gegen alle Widerstände. Dabei hat es aber die Machtstrukturen in der EU für alle sichtbar offen gelegt, genauso wie seine Bereitschaft, diese auch zu nutzen. Die konkreten Konsequenzen liegen dabei notwendigerweise im Dunkeln. Niemand konnte in den USA 2003 den Aufstieg von ISIS voraussehen, oder die Herausbildung Irans zur regionalen Hegemonialmacht. Genauso wenig ist heute klar, welche Schäden Deutschlands Griechenlandpolitik haben wird. So oder so brauchen wir uns aber nicht zu wundern, wenn wir bei der nächsten Krise in der EU einer deutlich stärkeren und entschlosseneren Abwehrfront gegenüberstehen, oder wenn an der Peripherie eher feindlich gesinnte Staaten deutlich an Einfluss gewinnen. Vermutlich würde man sich dann wünschen, die griechische Kröte eben geschluckt und den Preis des Hegemon bezahlt zu haben. Nur wird es dann zu spät sein.

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