Samstag, 26. September 2015

One Coup Too Far: Der Rücktritt von John Boehner im Kontext

Der Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, hat seinen Rücktritt angekündigt. Unter seinen politischen Gegnern, den Democrats, waren die Reaktionen hierauf eher verhalten. Als Marco Rubio die Nachricht während einer Wahlkampfveranstaltung brühwarm seinen Anhängern unterbreitete, jubelten diese jedoch als ob sie gerade eine Wahl gewonnen hätten. Dabei war Boehner ein Republican, und noch dazu einer, der nicht gerade durch innige Nähe zu Obama aufgefallen wäre. Warum also jubeln die Republicans, wenn ihr eigener Sprecher und effektiver Parteivorsitzender den Rücktritt ankündigt? Es scheint jedenfalls nicht, als ob Boehner mit mehr Liebe auf seine eigenen Leute blicken würde. In einem Interview vor einer Woche erklärte er, dass man alles ertragen würde, wenn man für eine Sache kämpfe, und fügte einen hilfreichen Vergleich hinzu: "Müllmänner gewöhnen sich ja auch an den Gestank von Müll." Nun, das klingt nicht gerade nach einer Liebesbeziehung zwischen ihm und den Abgeordneten, deren Sprecher er ist. Was also ist da passiert?

John Boehner, ein treuer Parteisoldat und verlässlicher Funktionär seit er seine Karriere begonnen hatte, wurde im Januar 2011 im Zuge des Sieges der Republicans bei den Midterm Elections 2010 zum Sprecher gewählt. Es war die große Zeit der Tea Party und des Konflikts um Obamacare, und die Democrats hatten zum ersten Mal seit 2006 die Mehrheit im Repräsentantenhaus wieder verloren (im Senat behielten sie bis 2014 die Mehrheit). Für Obama brachen wegen der starken Gewaltentrennung in den USA, die für effektives Regieren eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses und die Macht im Weißen Haus erfordert, schwere Zeiten an. Tatsächlich erklärte Boehner auch ziemlich offen, dass er keinerlei Interessen an Kompromissen mit dem Weißen Haus besäße. Das Ziel der Republicans war die Abwahl Obamas 2012 und die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses. Boehners Strategie zum Erreichen dieses Ziels war eine totale Obstruktionspolitik - eine Taktik, mit der auch Deutschland seine Erfahrungen hat.

Die Regierung kam denn auch sofort in schwieriges Fahrwasser. Noch 2011 bescherten Boehners Truppen Obama die erste Krise, als sich die Republicans weigerten, eine Routineabstimmung - die Anhebung der Obergrenzung der US-Schulden, das sogenannten debt ceiling - durch den Kongress zu winken. Wäre das debt ceiling nicht zum Stichtag angehoben worden, wären die USA zahlungsunfähig geworden. Boehner hoffte, durch diese Strategie einen Haushalt nach den Vorstellungen der Republicans erzwingen zu können. Das Spiel mit dem Feuer ging glimpflich aus: Obama einigte sich mit den Unterhändlern auf den sogenannten Sequester: so nicht bis zu einem neuen Stichtag ein Kompromiss gefunden wurde, würden im Haushalt automatisch Mittel gestrichen - ein fixer Wert quer durch alle Posten. Das betraf auch Lieblingsprojekte der Republicans wie das Militär, die diese gerne aus dem Deal herausgehalten hatten. Die Voraussage vieler Experten, dass Obamas Regierung durch den Sequester stärker getroffen werden würde als die Republicans, erfüllte sich nicht. Die Regierung überstand die Krise, und das Kriegsbeil wurde schließlich begraben.

Zwar hatte Boehner einen vergleichsweise guten Haushalt für seine Partei herausholen können, aber vielen der 2010 neu gewählten radikalen Republicans erschien der Kompromiss mit Obama als Sündenfall, und das debt ceiling war als Geißel in zukünftigen Verhandlungen nicht mehr zu gebrauchen, da die Republicans offensichtlich nicht gewillt gewesen waren, die Zahlungsunfähigkeit der USA zu riskieren. Für Boehner zeigte sich damit die Dynamik, die ihm in den kommenden Jahren die meisten Probleme bereiten würde: obwohl er nach den normalen Maßstäben des Politikbetriebs große Erfolge erzielten konnte, war dies dem lautstarken und irrationalen radikalen Flügel - etwa ein Drittel der republikanischen Abgeordneten - seiner Partei zu wenig. Zwar war der Kompromiss nie ernstlich in Gefahr, weil Boehner ihn notfalls mit den Stimmen der Democrats hätte durchbringen können, aber das wäre für ihn natürlich das politische Todesurteil gewesen.

Boehner verlegte sich in der nächsten Zeit auf eine unauffälligere Obstruktionsstrategie, die aber Mitt Romney nicht retten konnte, der 2012 die Wahl verlor. Zwar hielten die Republicans mühelos ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus, konnten aber auch 2012 den Senat nicht erobern, so dass Obama besonders bei der Ernennung wichtiger Verwaltungsposten noch relativ viel Freiraum besaß. 2013 aber konnte er die Radikalen nicht mehr unter Kontrolle behalten - sie erzwangen den Shutdown der Regierung (siehe Deliberation Daily damals), indem sie sich weigerten, einen Haushalt zu verabschieden. Obama hatte aus den Jahren 2011 und 2012 die Lehre gezogen, dass ein Kompromiss mit den Republicans sinnlos war - egal wie weit er ihnen entgegen kam, sie würden ihm nichts dafür geben und weiter mit den härtesten Maßnahmen drohen. Boehner meinte seine Strategie, die er bereits 2011 erklärt hatte, ernst, auch wenn er ein Gegner von theatralischen und sinnlosen Zuspitzungen wie dem Shutdown war. Obama nutzte die Auseinandersetzung und gab nicht nach. Nach rund zwei Wochen gaben die Republicans auf. Die Grenzen der Obstruktionspolitik wurden offensichtlich, und Obama begann in verstärktem Maße - besonders ab den Midterm Elections 2014, bei denen die Democrats den Senat verloren - um den Kongress herumzuarbeiten und die exekutiven Machtmittel stärker zu nutzen. Gleichzeitig gewann Boehner mit dem Senat zwar mehr Rückhalt, aber auch dort schwangen sich die Radikalen auf häufig unangenehme Art ins Scheinwerferlicht, etwa in Gestalt des texanischen Senators Ted Cruz.

Anfang 2015 sah die Bilanz Boehners aus republikanischer Sicht damit gemischt aus. Die meisten Rebellionen der Radikalen im Kongress hatte er abwehren können, sowohl der debt-ceiling-Streit von 2011 als auch der Shutdown von 2013 - die öffentlichsten Auseinandersetzungen mit Obama - waren verloren gegangen. Gewonnen hatte Obama allerdings in beiden Fällen nichts, seine Siege waren nur defensiver Natur. Boehner kann damit für sich in Anspruch nehmen, den Kongress effektiv lahmgelegt zu haben. Er erreichte dies vorrangig, indem er die meisten Gesetzesvorschläge gar nicht erst zur Abstimmung freigab und damit die Lesungen, Ausschüsse und Debatten neutralisierte. Tatsächlich sind die Kongresse unter Boehner unter den unproduktivsten der US-Geschichte überhaupt. Es hängt wohl vom parteipolitischen Standpunkt ab, wie man diese Errungenschaft bewertet. Eines aber war mittlerweile überdeutlich geworden: die Radikalen seiner Partei hassten ihn und die Tatsache, dass er gelegentlich eben doch das Notwendige tat und nicht irgendwelche symbolischen, aber erfolglosen Gesten wie den Shutdown übte. Sie warfen ihm vor, zu nachgiebig zu sein. Der konstante Druck, den Boehner so erfuhr, hinterließ seine Spuren. Kommentare wie der Müllmänner-Vergleich zeigen dies allzu deutlich. So hoffe Boehner, 2015 sein Amt an einen handverlesenen Nachfolger übergeben zu können: Eric Cantor, einen anderen klassischen Republican, der weniger den radikalen Evangelikalen der Tea Party als den Interessen des Großen Geldes zugetan war. Doch völlig überraschend verlor Cantor 2014 die Vorwahlen für seinen Senatssitz gegen einen Tea-Party-Rebellen und ging als Lobbyist in die Wirtschaft. In den letzten Wochen drohten die Radikalen zudem, den Kongress wie bereits 2013 zu einem Shutdown der Regierung zu zwingen.

Boehners Rücktritt ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Er hat keine Lust mehr, bis 2016 weiterzumachen. Als lahme Ente in das Wahljahr 2016 zu gehen ist auch keine Option. Für Boehner ist es zudem wichtig, die destruktiven Tendenzen der Tea Party einzudämmen, weswegen er ihnen bei der Bestimmung seines Nachfolgers so wenig Raum wie möglich gewähren darf. Daher sein überraschender wie kurzfristiger Rücktritt, der seinen Gegnern nur wenig Zeit lässt, sich hinter einem Kandidaten zu sammeln. Wie so häufig in radikalen Bewegungen wissen die Tea-Party-Anhänger zwar, wogegen sie sind, können sich aber nur schwer auf etwas einigen, für das sie sind. Dies ist auch in den Vorwahlen zu beobachten, wo die Kandidaten der radikalen Rechten steigen und fallen während die Kandidaten des Establishments stabil bleiben. Es ist daher wahrscheinlich, dass ein Abgeordneter wie Steven McCarthy aus Kalifornien, der vor allem durch seine guten Funktionärseigenschaften aufgefallen ist, der nächste Sprecher wird. Andererseits sollte man nie die destruktive Kraft der Tea Party unterschätzen. Dafür muss man nur John Boehner fragen.

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