Sonntag, 21. August 2016

Hält die Mitte?

Turning and turning in the widening gyre.
The falcon cannot hear the falconer;

Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

The ceremony of innocence is drowned.

The best lack all conviction, while the worst

Are full of passionate intensity.

(W. B. Yeats, "The Second Coming", 1919)

Das Jahr 2016 ist bisher nicht gerade eines der erfreulichen im 21. Jahrhundert. Wer nur oberflächlich im Netz unterwegs ist wird bestimmt schon auf den einen oder anderen Scherz darüber gestoßen sein, dass man es am besten aus dem Kalender streicht oder zurückgibt oder später im Geschichtsunterricht totschweigt. Und während die Zunahme des Terrors in der westlichen Welt, die ersten sichtbaren Schattenseiten der Willkommenskultur, der Brexit und der Aufstieg der Rechtspopulisten dieseits wie jenseits des Atlantiks immer wieder die gern gefühlte Ruhe in den heimischen Wohnzimmern erschüttert, stellt sich die bange Frage: hält die Mitte? Can the Center hold? Anders ausgedrückt: versinkt der Westen - und um den geht es, wenn wir ehrlich sind, denn es gibt nur wenig Empathie für Venezuela und Brasilien - in "bloßer Anarchie", überrollt von einer "blutdunklen Welle"?


Verfolgt man die Nachrichten, könnte man meinen dass dem so ist. Schließlich sind diese voll von Berichten über kriminelle Flüchtlinge/Migranten/sonstige Ausländer, von Terroranschlägen, von politischen Schocks (Trump! Brexit! Putin!) und kulturellem Verfall (Smartphones verderben die Jugendlichen, Autos fahren selbst, etc.). Wissenschaftler wie Steven Pinker allerdings relativieren dies mit dem Verweis darauf, dass Gewalt, Armut, Krankheit und Unterdrückung weltweit auch 2016 auf dem Rückmarsch sind. Nun war es natürlich nur Wenigen ein Trost, dass ihre aktuelle Not nur ein Ausreißer vom generellen Trend ist, denn die Not bleibt ja real, und der eigene Horizont ist notwendigerweise von den eigenen Umständen bestimmt. Deswegen verabschieden wir uns an dieser Stelle von einer ganzheitlichen Betrachtung und betreiben Nabelschau für unsere eigene, westlich geprägte Welt.

Die fünf größten Themen, die derzeit am Fundament der liberalen Demokratie rütteln sind ohne Zweifel Terrorismus, Flüchtlingskrise, Rechtspopulismus, Russland und der reaktionärer Backlash. Diese fünf Phänomene sind alle miteinander verknüpft und spielen sich gegenseitig Bälle zu. Im folgenden will ich versuchen, sie in einen allgemeinen Kontext zu stellen.

Da wäre zum Einen die Flüchtlingskrise. Die euphorische Berichterstattung zur Willkommenskultur, die noch 2015 die Nachrichten dominierte, ist mittlerweile nicht nur unter dem Eindruck der Sylvester-Nacht in Köln deutlich abgekühlt. Die Deutungshoheit über den aktuellen Stand der Dinge ist von den klassischen Medien in die Fiebersümpfe der Sozialen Netzwerke gewandert, wo allerlei dubiose Quellen munter geteilt werden und die absonderlichsten Geschichten die Runde machen, ob es der kostenlose Mercedes für Flüchtlinge, eine Vergewaltigungswelle in den Schwimmbädern der Republik oder das Begrapschen von Frauen auf offener Straße ist. Der schieren Masse der Falschnachrichten kommen die Dementis von Polizei und Lokalpresse schon gar nicht mehr hinterher. Was aber sagen die Zahlen?

Im August unterstützen laut der Forschungsgruppe Wahlen allerdings immer noch 44% aller Deutschen die Flüchtlingspolitik Merkels; 52% lehnen sie ab. Gleichzeitig erwarten immer noch 60% der Deutschen, dass die Flüchtlinge dem Land ökonomisch helfen werden, während nur 30% negative Effekte erwarten. Die Ablehnung der Flüchtlingspolitik konzentriert sich zudem stark auf die AfD, wo satte 99% der Parteimitglieder sie ablehnen - während in der CDU 66% zustimmen. Ein guter Teil des Unmuts scheint mir zudem von den Reibungsverlusten zu kommen, die die Unterbringung von einer Million Flüchtlingen mit sich bringt. Wer jemals in einer Gegend gewohnt hat, an die ein Neubaugebiet angeschlossen werden soll, kennt den entstehenden Widerstand gut. Die diffuse Angst vor dem Fremden jedoch, die immer noch weitverbreitet ist, sollte nicht unterschätzt werden. Insgesamt allerdings steht eine solide Mehrheit in Deutschland immer noch radikalen Lösungen ablehnend gegenüber. Die Unzufriedenheit scheint daher zu einem guten Teil eher auf die konkrete Umsetzung als die Prämissen bezogen zu sein. Diese Schlussfolgerungen sind allerdings zugebenermaßen spekulativ.

Drastischere Auswirkungen hat die Flüchtlingskrise in anderen Ländern. In Osteuropa, wo sie entweder kaum (Polen, Tschechien) oder nur auf dem Durchweg (Ungarn) zu spüren ist, kapitalisieren die dortigen rechtspopulistischen Strömungen massiv fremdenfeindliche Ressentiments. Die niedrigen Asylbewerberzahlen in diesen Ländern stehen in keinem Verhältnis zu dem Hass, der den Flüchtlingen dort entgegengebracht wird - ein mittlerweile vertrautes Schema, das sich auch in Deutschland wieder besichtigen lässt, wo gerade die Regionen mit den geringsten Ausländeranteilen häufig am ausländerfeindlichsten sind. Als politisches Kampfmittel zementiert die eigentlich ferne Flüchtlingskrise so die Herrschaft der Neuen Rechten in Osteuropa und schiebt sie in anderen Ländern an. In Deutschland brachte sie die AfD aus dem politischen Nahtod zurück, in Frankreich malt sich die Front Nationale Hoffnungen aufs Präsidentenamt aus, in England nutzte UKIP sie, um den Brexit erfolgreich zu plebiszitieren und in den USA schwimmen Trump und die Republicans auf der Welle des Hasses.

In all diesen Ländern wird im Diskurs, und das ist der zweite Punkt, die Flüchtlingskrise mit der Zunahme des Terrorismus verbunden. Eine tatsächliche Korrelation ist dabei nur schwierig herzustellen, denn die großen Attentate wie in Nizza, Paris oder in der Normandie wurden von Menschen verübt, die entweder schon länger als 2015 im Land waren oder nur einen Migrationshintergrund in zweiter Generation hatten. Sie sagen daher mehr über verfehlte Integrationspolitiken als über Flüchtlinge aus. Aber diese Feinheiten gehen in der Furcht genauso unter wie die statistisch eher geringe Terrorgefahr. Bei über einer Million Flüchtlingen in Deutschland allein ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis eine nach August 2015 geflüchtete Person eine Gräueltat begeht und die Diskussion damit erneut in voller Stärke aufflammt. Tatsächlich ist die Terrorangst, ob berechtigt oder unberechtigt, so stark wie seit 2001 nicht mehr. Die kulturell bedingte, meist rassistisch unterfütterte Ablehnung von Fremden vermischt sich daher bis zur Unkenntlichkeit mit der Furcht vor Terrorismus.

Unterstützt wird das zusätzlich durch den gezielten Einfluss von außen, in diesem Fall die assymetrische Kriegführung Russlands. Staatlich gesteuerte Fernsehsender wie Russia Today (RT), finanzielle Unterstützung rechtspopulistischer Parteien und Politiker wie der Front Nationale oder Donald Trump, gezielte Hacks (wie beim DNC) und Heerscharen von Internettrollen, ein guter Teil davon KI-gesteuert, die in den Sozialen Netzwerken für Unruhe sorgen produzieren eine gewaltige Unsicherheit und attackieren die Meinungshoheit der liberalen Medien. Beispielhaft für das aus diesen Einmischungen entstehende Klima dürfte die Geschichte des 13jährigen Mädchens sein, das von Flüchtlingen vergewaltigt worden sei. RT Deutschland nutzte die Story massiv um Vertrauen in die Medien zu untergraben (die die Story angeblich totschweigen) und Stimmung gegen die Flüchtlinge zu machen. Inzwischen ist erwiesen, dass an der Story - wie an vielen, vielen anderen - nichts dran war. Die Attacken allerdings heben gezielt den Unterschied zwischen Fakt und Trug auf und machen wirre Theorien und Meinungen salonfähig, indem sie Unsicherheit und Verwirrung schaffen¹.

Auf diesem fruchtbaren Nährboden der Furcht, der Unsicherheit und des Hasses gedeihen aktuell die rechtspopulistischen Parteien und Politiker. Sie kapitalisieren ihn, ohne dabei irgendwelche Antworten zu haben. Meist wird eine diffuse Größe in der historischen Vergangenheit beschworen, ob in Polen ("einfaches Volks" vs. "kosmopolitische potentzielle Landesverräter"), Ungarn ("traditionelles Familenmodell"), Frankreich ("Weder rechts noch links - französisch!") oder den USA ("Make America Great Again"), ein Weg der aus naheliegenden Gründend er AfD in Deutschland nicht offensteht. Alle diese Parteien folgen dabei einem ähnlichen Schema. Sie werden geführt von einem "starken Mann" (der wie in Frankreich auch eine Frau sein kann) und lehnen die traditionellen Werte einer liberalen Demokratie ab: Toleranz, Kosmopolitizismus, Meinungsfreiheit, Pluralismus, oft auch Marktwirtschaft (vor allem in Ungarn). Einmal an der Macht ändern sie fast immer relevante Gesetze und wenn möglich auch die Verfassung, brechen bestehende liberal-demokratische Normen (etwa die Unabhängigkeit von Presse und Justiz) und lösen politische Konflikte häufig per Akklamation (Volksentscheid).

Legitimiert werden diese Schritte zumeist einerseits historisch in der Wiederherstellung einer konstruierten, "reinen" Identität und der Restauration der damit einhergehenden Werte, häufig eines ethnisch reinen, religiös unterfütterten Patriarchats. Die Opfer dieser Entwicklung sind immer Minderheiten, entweder ethnische (etwa Sinti und Roma) oder kulturelle (LGBT, kosmopolitische Eliten). Sie versuchen, die herrschende Unsicherheit zu nutzen, die auch durch den massiven kulturellen Wandel der vergangenen zwei Jahrzehnte hervorgerufen wird, der mittlerweile einen veritablen backlash produziert hat.

So ist die Akzeptanz abweichender Sexualpraktiken (Homosexualität ist da nur primus inter pares) in diesen zwei Dekaden ebenso massiv angestiegen wie die Tabuisierung von offenem Rassismus und Sexismus sowie genereller Engstirnigkeit. Die Zeiten, in denen sich ein Bundeskanzler wie Gerhard Schröder noch Anfang der 2000er Jahre mit offensivem Proletentum profilieren konnte sind in der deutschen Politik vorbei. Das führt zu einem backlash bei jenen, die damit ihren Lebensstil in Gefahr sehen - ein Phänomen, das sich am eindringlichsten in Trumps Invektiven gegen "political correctness" beobachten lässt, die häufig aus wenig mehr als dem gezielten Tabubruch, dem Widerstand gegen Normen und Konventionen bestehen, ein Verhalten, das man sonst eher pubertären Jugendlichen zuschreibt. Nicht, dass das diese Leute davon abhalten würde sich über den Werteverfall der Jugend und ihre Verderbnis zu beklagen während sie gleichzeitig ihren Hass und Unrat in die Welt hinausschreien.

All diese Faktoren bedrohen die liberale Demokratie und drohen, sie in einen Abwärtsstrudel zu reißen, an dessen Ende eine autokratische, auf gezielter Desinformation und Diskriminierung basierende Herrschaftsform steht. In Putins Russland kann man sie in Reinform sehen, Ungarn ist nicht mehr weit weg, Polen auf dem besten Wege. In Frankreich, Großbritannien und den USA stehen gerade die Gründerstaaten der liberaler und republikanischer Ideen vor diesem Strudel. Die Frage ist daher, erneut: Can the center hold? Hält die Mitte?

Die beschriebenen Faktoren schaffen schließlich keinen Automatismus. Die Horrorversion habe ich beschrieben, und sie würde 2016 tatsächlich zu einem furchtbaren Jahr machen. Es ist aber auch möglich, dass die Mitte hält. Die Nachrichten aus den USA bleiben unvermindert gut. Donald Trumps Zustimmungswerte sind schlecht, und ein Sieg Hillary Clintons bleibt wahrscheinlich. In Großbritannien machen die Tories wenig Anstalten, der UKIP in ihrer Radikalrhetorik nachzufolgen, und Labour führt noch immer einen Kampf um die eigene Seele und den Angriff durch eine ähnliche, nur in diesem Fall linkspopulistische Strömung durch Jeremy Corbyn, dessen Sieg auch nicht garantiert ist. In Frankreich könnte ein Bündnis der Mitte Marie Le Pen durchaus stoppen. In Deutschland steht die AfD zwar stärker da als je zuvor, aber gleichzeitig bleibt der Konsens für die liberale Demokratie außerordentlich stark. Es gibt also Gründe zum Hoffen und nicht nur zum Bangen. Es ist an jedem Einzelnen, dem Unrat keinen Platz zu geben und seinen Teil dazu beizutragen, dass die großen Errungenschaften der letzten Dekaden nicht der dunklen Seite unserer Seelen zum Opfer fallen.

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¹ Es hat natürlich eine gewisse Ironie, dass der Westen zur Zeit des Kalten Kriegs dieselben Taktiken anwendete, etwa mit RIAD oder Voice of America.

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